Die Last des Erbes

Eine junge Frau erbt Millionen. Das Geld verunsichert sie.
Über ein schweres Privileg.

Von Miguel Helm

Christina Hansen vor der Metzgerei

Seitdem es Geld gibt, träumt der Mensch davon, reich zu sein. Reichtum, darin sind sich die meisten einig, bedeutet zwar nicht automatisch Glück. Aber viele würden zustimmen, dass er das Leben erleichtert.

Diese Geschichte zeigt jedoch, wie sich ein vermeintliches Privileg als Last entpuppen kann. Und wie ein reicher Mensch nach einer sinnvollen Aufgabe sucht.

In einer Gemeinde mit einem barocken Schloss am Bodensee lebt eine Millionärin, die sagt, sie habe ihren ganzen Reichtum nicht verdient. Der Staat soll ihr mehr Geld abnehmen.

Christina Hansen ist 31 Jahre alt. Millionärserbin, Spülhilfe in einer Metzgerei, American Football-Fan.

Christina Hansen im Garten

Sie empfängt mich in einem ehemaligen Armenhaus. Früher wohnten hier Behinderte, Waisen und andere Menschen zu zehnt auf einem Zimmer. Heute ist es ihr Zuhause, mit ihrem Freund lebt sie im Dachgeschoss. Sie hat das Gebäude vor fünf Jahren gekauft und umgebaut.

Nach Luxusmobiliar suche ich vergeblich, hier könnte auch eine Studierenden-WG leben. Auf dem Backofen stapeln sich ein paar Bücher, daneben ein halbvoller CD-Ständer. Auf dem Boden die Reste von einem Holzpflock, die wohl der kleine Hund abgenagt hat, der hier herumspringt. Christina schneidet Apfelspalten und stellt sie auf den Küchentisch. Es ist der Vormittag eines normalen Werktages Anfang September. Sie hat Zeit.

Es gibt im Wesentlichen zwei Arten in Deutschland, an Reichtum zu gelangen. Erste Möglichkeit: Man erarbeitet ihn sich selbst, indem man etwa eine innovative Geschäftsidee hat und im besten Fall fleißig ist. So muss es beim Großvater von Christina Hansen gewesen sein. Nach dem Krieg wird er mit seinem Maschinenbaubetrieb auf der Schwäbischen Alb reich, ein Selfmade-Millionär.

Zweite Möglichkeit: Man erbt. So wie die Familie Hansen nach dem Tod des Großvaters. Christina, die Enkelin, ist heute Gesellschafterin und besitzt Anteile am Unternehmen in Millionenhöhe, ohne dass sie je dort gearbeitet hat. Jedes Jahr bekommt sie einen Teil davon ausgeschüttet, wie ein Aktionär die Dividende. Christina Hansen wird wahrscheinlich nie in ihrem Leben arbeiten müssen. Sie könnte sich eine Villa auf Bali kaufen und den ganzen Tag: nichts tun.

Besteuert mich höher!

Im Juli 2020 unterzeichnen Millionäre aus sieben Länder einen offenen Brief. Auf der Internetseite millionairsforhumanity.com findet man ihn. Er ist nicht besonders lang, 29 Zeilen. Es geht um die Folgen der Corona-Krise und die Frage, wie der Wiederaufbau finanziert werden kann. Die Antwort steht fett im zweiten Absatz.

Heute fordern wir, die unterzeichnenden Millionäre, unsere Regierungen auf, die Steuern auf (vermögende) Menschen wie uns zu erhöhen. Sofort. Substantiell. Permanent.

Zu den 83 Unterzeichnern gehören Prominente wie der Mitbegründer von Ben und Jerry’s, Jerry Greenfield, oder die US-Filmemacherin Abigail Disney. Und Christina Hansen vom Bodensee.

Warum will sie mehr Steuern zahlen?

Es geht um Connection und Macht

Christina sagt, sie sei leider kein ehrgeiziger Mensch. Sie warte lieber, dass was kommt. Wenn es nicht kommt, dann ist es halt so. Als sie ein Praktikum in der Schulzeit absolvieren muss, telefoniert ihre Mutter Nummern in ihrem Kontaktbuch ab. Vermögen sei nämlich viel mehr als nur Geld, sagt Christina heute. Es sei auch Connection und Macht.

Sie sei oft total verunsichert gewesen, sagt sie. Während ihre Mitschüler ihre Karriere planten, fragte sie sich: Wie kann ich überhaupt ein wertvolles Mitglied dieser Gesellschaft sein, wenn ich keinen Drang habe, irgendetwas machen zu müssen? Woran kann ich mich festhalten? Ja, sie wisse, das seien Luxusprobleme, die andere gerne hätten. Aber für sie seien das Fragen gewesen, die sie sehr ernsthaft beschäftigen hätten.

Ihre Eltern sagten ihr: Sei lieber mal vorsichtig.

Wenige wussten von dem Reichtum ihrer Familie. Christina, ihre zwei Geschwister und ihre Eltern lebten in einem großen Haus, hatten zwei Autos und eine Haushälterin. Aber dafür muss man keine Millionen Euro besitzen, das haben auch andere wohlhabende Menschen. Ihre Eltern sagten ihr: Sei lieber mal vorsichtig. Erzähl lieber nicht so viel über unser Vermögen. Die Leute reagieren da komisch. Christina hielt sich daran. Irgendwann fragte sie sich: Warum? Sie habe doch nichts falsch gemacht. Sie müsse sich nicht schämen.

Sie wird älter, interessiert sich für das Weltgeschehen, liest Nachrichten und Bücher, verbringt ein halbes Jahr in der Armut Südamerikas – ihr wird klar: Es gibt viele Probleme auf der Welt. Und viele Probleme können mit Geld gelöst werden.

Christina Hansen - Welt neu denken

Eine isolierte Clique

In Deutschland werden jährlich bis zu 400 Milliarden Euro vererbt, das ist mehr Geld als das Budget des Bundeshaushalts. Wie viele Millionärserben in Deutschland leben, weiß keiner genau. Die meisten von ihnen schweigen. Christina sagt: „Ich würde mir wünschen, dass wir offen über Geld, über Vermögen, über Macht reden können. Denn im Moment sind wir eine sehr isolierte Clique.“

Wenn die gesellschaftliche Ungleichheit weiter zunimmt, kommt es irgendwann zu einem Clash, glaubt Christina. Reiche wie sie haben die Aufgabe, über ihr Vermögen und ihre Verantwortung in der Gesellschaft zu reden.

Im Jahr 2014, Christina Hansen war 24, gab sie dem Spiegel ein Interview. Sie berichtete von ihrem Vermögen und dass sie einen fünfstelligen Betrag der Bewegungsstiftung spendete, einer Organisation, die Projekte finanziell unterstützt, die sich für Naturschutz und Menschenrechte einsetzen. Sie sagte: „Besitz zu teilen ist wichtig, vor allem wenn man ihn nur geerbt und nicht selbst erarbeitet hat.“ Ihr damaliger Freund regte sich über den Text auf. Christina erinnert sich, wie er ihr sagte, ihm sei es tausend Mal lieber, dass sie das Geld in aller Ruhe für sich verprasse, als darüber zu reden. Sie antwortete ihm: Was?! Genau, das ist das Problem, das wir in Deutschland haben. Lieber egoistisch sein, als gemeinnützig.

Jeder Mensch braucht eine Erzählung, die das Leben sinnvoll erscheinen lässt. Christinas Erzählung geht offenbar so: Ich versuche, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, mit dem was ich habe – meinem Geld.

Ein paar Minuten zu Fuß von Christinas Wohnung entfernt ist eine Baustelle, das Grundstück ist in der Nachbarschaft als Backhausareal bekannt.

Vom Millionär zum Tellerwäscher

In der Metzgerei ist gerade kein Kunde, es ist kurz vor 14 Uhr. Auf einem Holzaufsteller wird der Mittagstisch beworben: Schweinesteak mit Paprikasauce, dazu Reis und Salat, sechs Euro vierzig.

Christina Hansen vor der Metzgerei

Anfang des Jahres hat Christina gelesen, dass dort eine Aushilfe für die Spülküche gesucht wird. Sie hatte gerade wenig zu tun und wollte nicht einfach nur zu Hause rumhocken. Sie sagt, sie brauche etwas, was sie aus dem Haus zwinge. Also brachte die Millionärin ihre Bewerbungsunterlagen in die Metzgerei. Zehn Euro die Stunde, 20 Stunden im Monat. Abwaschen, Boden wischen, Kartoffeln schälen und schneiden.

Christina Hansen als Spülhilfe

Ich will Christina zum Mittagessen in der Bäckerei nebenan einladen, als Journalist macht man das manchmal, wenn man seine Protagonisten trifft. Christina sagt selbst, dass es natürlich etwas komisch sei. Sie, die Millionärin, die eingeladen wird. Aber gut. Sie bestellt sich ein kleines Stücke Pizza und eine Fritz Limo. Auf ihrer Gesichtsmaske ist das Logo der Ravensburg Razorbacks, sie ist Fan des American Football-Teams. Beim Fußball, sagt sie, da gebe es die großen Stars, die könnten sich erlauben, was sie wollen. Die hätten eine gesellschaftliche Sonderrolle, die sie fragwürdig finde.

Beim American Football sei das anders. Hier würden die Spieler auch danach bewertet werden, was sie der Gesellschaft zurückgeben.

Seitdem es Geld gibt, träumt der Mensch davon, reich zu sein. Geld kann eine Gesellschaft aber auch zerstören. Das ist Christinas Überzeugung. Sie wird weiter über ihren Reichtum sprechen. Damit sich etwas verändert, bevor es zu spät ist.

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