Ersatzmutter für zwölf Kinder

von Tina Srowig & Ina Kila

Artikulli i disponueshëm edhe në: Shqip

Valbona Ballas Arbeitstag beginnt mit einer langen Autofahrt. Zweieinhalb Stunden braucht der Geländewagen für die 62 Kilometer über rumplige Straßen bis zum Internat im kleinen Bergdorf Bishnica – wenn alles gut geht. Im Winter sind die Straßen manchmal so verschneit, dass kein Auto mehr hoch oder runter fahren kann. Jetzt, im Oktober, ist die Aussicht in den Mokra-Bergen am schönsten. Einige Bäume haben schon eine gelbrote Färbung angenommen.

Durch Bishnica führt eine staubige Straße, die meisten Häuser am Straßenrand sind verfallen. Früher war das anders: Es gab ein Hotel, eine Bar, ein Kino. Heute sind hier Ruinen. Einmal pro Woche kommt Valbona Balla hierher - diese Woche wird die gelernte Sozialarbeiterin drei Tage im Internat bleiben, in dem zwölf Kinder übernachten. Valbonas sechsjährige Tochter Elina bleibt zu Hause. „Sie vermisst mich sehr“, sagt sie. Während die 32-Jährige weg ist, kümmern sich ihr Ehemann und ihre Eltern um ihre Tochter – in Albanien ist das eher ungewöhnlich. „Sonst könnte ich die Arbeit im Internat gar nicht machen.“

„Ich weiß, dass ich den Kindern nicht Mutter oder Vater ersetzen kann.”

Internat - das klingt nach Elite. Doch davon ist das Wohnheim hier weit entfernt. Manchmal fällt der Strom aus, je vier Kinder schlafen in den Zimmern. Auch die Mitarbeiter teilen sich Schlafzimmer und Badezimmer. Die Hilfsorganisation, für die sie arbeiten, heißt „Diakonia Albania“. Gegründet wurde sie vom deutschen Verein „Christliches Hilfswerk Wismar“, der auch das Internat finanziert.

Die Kinder kommen aus winzigen Bergdörfern, in einigen von ihnen wohnen nur noch wenige Familien. Schulen gibt es dort schon lange nicht mehr. Damit die Kinder nicht jeden Tag stundenlang zu Fuß zum Kindergarten oder zur Schule und zurück laufen müssen, übernachten sie im Wohnheim. Sonntags holen die Mitarbeiter des Internats die Kinder aus ihren Dörfern ab und bringen sie freitags zurück. Für die Zeit, die sie im Internat wohnt, ist Valbona dann so etwas wie ihre Ersatzmutter. „Wir geben den Kindern viel Liebe. Aber ich weiß, dass ich ihnen nicht Mutter oder Vater ersetzen kann,“ sagt sie.

Die fünfjährige Marjana übernachtet auch im Internat.
„Wenn die Kinder bei ihren Familien bleiben, werden sie wie ihre Eltern. Sie sollen eine bessere Zukunft haben.”

Eines der Kinder im Internat ist die fünfjährige Marjana. „Am Anfang hat Marjana geweint und nach ihrer Mutter gefragt,“ erzählt Saimir Rakipllari, der auch für die "Diakonia Albania" arbeitet. „Aber jetzt ist sie glücklich hier.“ Marjanas Eltern leben im kleinen Dorf Verçan und haben keine Arbeit. „Der Vater ist krank und bekommt im Monat gut 100 Euro Sozialhilfe,“ sagt Saimir Rakipllari. Davon muss die ganze Familie leben: die Eltern, Marjana, ihre drei Geschwister und bald auch das fünfte Kind, mit dem die Mutter schwanger ist. Marjana und ihre drei älteren Brüder wohnen im Internat.

Der lange Fußweg zur Schule ist nicht der einzige Grund, warum Kinder im Internat bleiben. Ihre Familien haben oft zahlreiche Probleme – Arbeitslosigkeit, Armut, keine Perspektiven. „Wenn die Kinder bei der Familie bleiben würden, würden sie so werden wie ihre Eltern. Sie würden nicht zur Schule gehen. Wir wollen, dass sie eine bessere Zukunft haben,“ sagt Valbona Balla. Deshalb nehmen sie tagsüber auch einige Kinder im Internat auf, die nicht dort übernachten. Sie bekommen ein Mittagessen, können Hausaufgaben machen und spielen. Die Probleme der Familien in den Dörfern um Bishnica sind typisch für ländliche Gebiete in Albanien.

Immer weniger Menschen sehen eine Perspektive in den Bergregionen. 2016 lebten nur noch 42 Prozent der Bevölkerung in ländlichen Gebieten. Die Abwanderung macht die Situation für die Menschen, die bleiben, noch schwieriger.

Quelle: Worldbank / tradingeconomics.com

In den Bergen gibt es kaum Arbeit. Immer mehr Bergbewohner wandern deshalb in die Städte ab oder gehen gleich ins Ausland. „70 Prozent der Familien hier leben in Armut“, erklärt Saimir Rakipllari. „In manchen Dörfern müssen die Menschen drei Stunden laufen, bis sie den nächsten Markt erreichen.“ Von der nächstgelegenen Stadt Pogradec dauert die Fahrt in die Berge zweieinhalb Stunden. Wer also die Polizei oder einen Krankenwagen ruft, muss lange warten. Wenn überhaupt jemand kommt. Die Abwanderung geht rasant vor sich: „Im vergangenen Jahr waren in der Schule in Bishnica noch 115 Schüler, dieses Jahr sind es nur noch 80,“ sagt Saimir Rakipllari.

80 Kinder gehen in Bishnica zur Schule.
Im vergangenen Jahr waren es 115 Kinder.
Meistens werden zwei Jahrgänge zusammen unterrichtet.
„Das Hotel in Bishnica wurde zuletzt 1998 genutzt.”

„Das Hotel in Bishnica wurde zuletzt 1998 genutzt,“ erzählt Saimir Rakipllari. Heute ist das Hotel eine Ruine. Die Mitarbeiter der „Diakonia Albania“ versuchen, den Menschen vor Ort eine Perspektive zu bieten. Sie kümmern sich nicht nur um die Kinder. Sie unterstützen auch kranke und alte Menschen, helfen den Familien, ihre Häuser zu reparieren und auf eigenen Beinen zu stehen.

„Ich denke, dass der Tourismus eine Chance für die Menschen hier sein könnte. Die Luft ist gut, alle Nahrungsmittel sind bio und die Aussicht ist toll,“ sagt Valbona Balla. Reizvoll ist die Region für Touristen. Was fehlt, sind die passende Infrastruktur und Menschen, die das Tourismus-Geschäft in die Hand nehmen. Solange das nicht passiert, sorgen Menschen wie Valbona Balla und die anderen Internatsmitarbeiter dafür, dass wenigstens einige Kinder aus den Mokra-Bergen eine Chance auf eine bessere Zukunft haben.

Das Hotel in Bishnica verfällt seit 20 Jahren.